Musik verbindet

Stefanie Leinert war in der Ausstellung „Old Food“ von Ed Atkins im Martin-Gropius-Bau. Ihre Eindrücke teilt sie in einem Gastbeitrag auf unserem Blog, worüber wir uns sehr freuen. //  

Der Gropius-Bau hat drei neue Bewohner: Ein schwebendes Baby, ein wankender Teenager und ein geschundener Mann. Und diese drei digitalen Figuren sind unsagbar traurig. In einem Portrait im ersten Ausstellungsraum lernen wir uns kennen. Sie schauen aus dem Rahmen des Videoscreens heraus, manchmal direkt in meine Augen. Sie weinen kleberdicke Tränen, Rotz und Wasser möchte man sagen, aber dafür sind die Flüssigkeiten zu künstlich angelegt – es sieht aus wie schön glänzender Kleber. Und festkleben tue ich wirklich, an der Mimik der Figuren, die nach minutenlangem Betrachten, trotz aller unbehaglichen Künstlichkeit der digitalen Darstellung, in mir empathische Gefühle wecken. Seufzer immer derselben männlichen Stimme ergänzen die Blicke der drei Figuren. Die Stimme ist nicht computergeneriert, ihr Ursprung scheint ein menschlicher Körper zu sein, doch dieser ist nicht da und so wird sie zum Bindeglied der drei Figuren. Wenn auch das Baby mit dieser Stimme eines Erwachsenen seufzt, dann stellt sich eine merkwürdige Fremdheit ein.

Plötzlich erklingen Klavierakkorde, in Moll, ich stehe immer noch vor dem ersten Videoscreen und verbinde diese Musik mit den Portraits, den Seufzern, den Tränen. Um mich herum hängen Opernkostüme, auf zwei Ebenen aufgereiht, die dem Raum einen leicht verstaubten, aber nicht unangenehmen Archiv- oder Fundus-Geruch hinzufügen. Zu der Immaterialität meiner drei neuen Bekanntschaften bilden die Kostüme eine kontrapunktische Welt, allerdings auch eine der Abwesenheit. Die Opernfiguren, die mit ihrer Hilfe einst auf Opernbühnen verkörpert wurden, sind längst nicht mehr da. Aber ihre Kostüme sind Artefakte dieser anderen, künstlichen und vergänglichen Theaterwelt, die eine Spur hinterlassen hat. Sind die drei digitalen Figuren deshalb so traurig, weil sie keine Spuren hinterlassen können? Weiter gehe ich durch den Raum, in der Hoffnung, die Klaviermusik möge bald erneut einsetzen, weil ich wissen will, warum sie erklingt. Ich stehe nun vor einer großen Videowand, gebildet aus vielen einzelnen Screens und blicke in einen fast leeren Raum, auf dessen linker Seite ein Klavier zu sehen ist, auf der rechten Seite ein Loch in der Wand, durch das später der Teenager in den Raum purzeln wird. Ich stehe sehr lange vor dieser Wand, betrachte das Flackern des Lichts in dem künstlichen Raum, die Schattenspiele, die dadurch entstehen, habe sogar den Eindruck, es würde in dem Raum schneien. Irgendetwas fliegt darin herum und zeigt an, dass die Zeit nicht stillsteht, sondern vergeht. Aber nichts passiert. Ich gehe in den nächsten Ausstellungsraum, dort sehe ich auf zwei weiteren großen Videowänden in das Innere eines Holzhauses und eine liebliche Landschaft, in der eben diese Hütte steht. Im Inneren befinden sich, neben einer spärlichen Grundeinrichtung, ein Klavier und ein Fernseher, darin läuft der Film Frankensteins Braut. Auf der Wiese vor dem Haus steht ein weiteres Klavier, die Sonne scheint und die Vögel zwitschern, vielleicht summen sogar ein paar Bienen und es fliegen Blütenpollen. Der Ton aus dem Fernsehgerät und die Außengeräusche verschmelzen zur Atmosphäre eines friedlichen Nachmittags. Kerzen flackern im Haus, der Wind bewegt die etwas abgerissenen Vorhänge. Ich stehe minutenlang da und schaue mich in die Situation hinein – nichts passiert. Ich versuche alle drei Screens im Blick zu haben, denn ich warte immer noch auf den Beginn des Klavierspielens im ersten Raum, doch die Kostümreihen im zweiten Raum versperren mir die Sicht, entweder auf die erste Videowand oder auf die dritte. Soll ich daran gehindert werden, alle drei Situationen durch ein kleines Drehen meines Kopfes im Blick zu behalten?

Gerade als ich anfange, mich dem Film im Fernsehen zuzuwenden schwebt auf Screen drei das Baby in der Luft torkelnd auf das Haus zu, schwebt rüber in Screen zwei, zertrümmert hin und herfliegend versehentlich die Einrichtung und landet schließlich auf dem Klavierhocker. Währenddessen robbt draußen vor der Hütte der geschundene Mann auf das Klavier zu. Hier breche ich die Beschreibung ab – nur soviel: den Screen eins, den ich parallel nicht im Blick haben konnte, enterte zeitgleich der Teenager.

Beim Gang durch drei weitere Räume begegne ich den drei Figuren wieder, jede in einem Raum, jede einzeln in einem Portraitscreen. Sie weinen, sie seufzen, sie Blicken mich mit tränenverklebten Augen an, wenden sich ab, zwei sprechen etwas beinahe Unverständliches. Alle drei Figuren verlassen irgendwann ihren Rahmen. Wo gehen sie hin, frage ich mich und als einige Augenblicke später wieder die Klavierakkorde ertönen kann ich ahnen, wo sie sind: Aha, Musik verbindet, saust es mir kalauerhaft durch den Kopf. Aber eigentlich ist der Gedanke ernsthaft schön. Das, was mich angetrieben hat, die Figuren und die Räume zu erkunden, ist die Musik als Ankerpunkt. Sie gibt der Ausstellung ein akustisches Zentrum, auf das sich sowohl die Figuren als auch ich hinzubewegen, damit sie sich erfüllen kann. Aber was macht die Figuren so traurig?

In den Texten, die auf unterschiedlichen Materialien an den Wänden der Ausstellungsräume angebracht sind, geht es immer wieder um die Materialität toter Menschenkörper und was aus diesen wird. Die computergenerierten Figuren von Ed Atkins sind immaterielle Körper, merkwürdige Avatare ein und derselben Person, so scheint es. Es gibt augenscheinliche Analogien zwischen Baby, Teenager und Mann. Die Oberflächen ihrer künstlichen Körper sind detailliert herausgearbeitet, Haare, Poren, Zähne, Augen. Die eingangs beschriebene Mimik setzt auf klaren Ausdruck, sie ist lesbar. Doch so lesbar die Körper der Figuren sind, ihre Geschichte kenne ich nicht, ich sehe nur ihre Melancholie, ihre Traurigkeit. Die Kleidung des Teenagers und Mannes erscheint altertümlich, in den digitalen Raumszenarien wirkt sie anachronistisch – so wie die ausgestellten Opernkostüme. Die Gegenüberstellung von Kostüm und digitalen Figuren, die in raumübergreifenden Verbindungen stehen, hat mich als Besucherin in ein Netz von Zusammenhängen verwoben. Im Gegensatz zu alledem steht das Videowerk, das im letzten Raum auf zwei gegenüberliegenden Screens parallel gezeigt wird. Hier sind Figuren zu sehen, die in einem weißen Raum eine sich bewegende Masse bilden. Sie sind als Einzelne zu erkennen, doch sie sind keine Individuen, sie sind doppelt und dreifach kopiert in der Masse vorhanden. Sie gehen, laufen, fallen von oben herab in ein Loch, in das jedoch kein Einblick gewährt wird. Sie bilden eine Gruppe und werden explosionsartig auseinandergeschleudert. Sie fallen von oben herab und schlagen auf dem Boden auf, bilden einen Berg zuckender Körper. Der Sound der auf dem Boden aufschlagenden Körper ist schwer erträglich, er quält, obwohl es doch keine realen Menschen sind. Welche Affekte werden hier angesprochen? Sind es dieselben, die es möglich machen, dass wir im Kindesalter mit Puppen spielen und diesen ein Eigenleben zudenken können? Ist es infantil, im Erwachsenenalter empathisch auf Computerfiguren zu reagieren? Nein, vielmehr landen wir wieder beim Theater, dieses Mal der Puppenspielkunst und dem Theater der Dinge, die das Beleben (animare) von Gegenständen als grundlegende Kulturtechnik anwenden. Warum brauchen wir das? Macht uns die Begabung zur Empathie manipulierbar und schwach oder ist sie ein Schlüssel zur Welt, um dem Fremden, Unbekannten zu begegnen und nicht vor Schreck auszuweichen? Mit diesen Fragen verlasse ich die Ausstellung. Ed Atkins‘ „Old Food“ ist in der Reihe „Immersion“ der Berliner Festspiele noch bis zum 07. Januar 2018 im Martin-Gropius-Bau zu sehen. Wer allerdings erwartet, auf alte Schinken zu treffen, ist auf der falschen Spur.

fullsizerender-3Stefanie Leinert (Kulturwissenschaftlerin, M.A.) lebt in Berlin. Nach einem Ausbildungsjahr in Neuem Tanz und ers­ten Studien in den Fä­chern Germanistik, Anglistik und Philosophie an der Univer­sität Hannover arbeitete sie bei verschiedenen Konzertveranstaltern als Projektleiterin und freiberuflich als DJ. Ab 1999 studierte sie parallel dazu an der Universität Lüneburg im Magisterstudiengang Ange­wandte Kulturwis­senschaften die Fächer Musik, Sprache und Kommunikation sowie Me­dien und Öffentlichkeitsarbeit. In dieser Zeit landete sie mit ihren Studienthemen immer wieder bei den darstellenden Künsten, so dass auch die Theaterpraxis unvermeidbar war. Sie arbeitet nun als Theaterproduzentin und schreibt gerne, aber selten. 

Ein weiterer Gastbeitrag von Stefanie Leinert auf unserem Blog:
Flirt mit Pina

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3 Antworten zu “Musik verbindet

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