Berlin – eine Geschichte in viereinhalb Millionen Teilen

Im Vorfeld der Langen Nacht der Museen (#LNBerlin) luden einige Museen zu exklusiven Depotführungen. Nachdem ich vor zwei Wochen bereits im #DHMdepot zu Gast war, konnte ich nun auch noch die Halle besichtigen, in der die Stiftung Stadtmuseum ihre nichtausgestellten Objekte restauriert und lagert. //

Um zum Depot er Stiftung Stadtmuseum zu kommen, muss man ganz schön weit raus. In den Ortsteil Hakenfelde, den nördlichsten Zipfel des Bezirks Spandau, Bushaltestelle Hugo-Cassirer-Straße. In unmittelbarer Umgebung: das Spandauer Bürgeramt, ein Ladengeschäft, das einen Zettel an der Tür hat, dass es nicht das Bürgeramt ist und auch nicht weiß, wann das Bürgeramt endlich mal wieder Sprechzeiten anbietet, ein Neubaublock, ein Netto-Discounter, eine vertrocknete, halbherzig umzäunte Wiese und, an der Ecke zur Hans-Poelzig-Straße, ein schlichter zweigeschossiger Flachbau aus rotem und dunkelviolettem Klinker.

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Architekt Hans Poelzig entwarf das neue Kabelwerk an der Havel im Stil der Industriearchitektur der 1920er Jahre.

Dieses Gebäude, erbaut 1928 – 1930, beherbergt das Museumsdepot der Stiftung Stadtmuseum.
Es gehörte zum Kabelwerk Hugo Cassirers; entworfen von Hans Poelzig trägt die mittlerweile denkmalgeschützte Halle heute den Namen ihres Architekten. Seit 2003 nutzt die Stiftung Stadtmuseum die östliche Seite der Halle als Lagerstätte, seit 2010 beherbergt die museumsgerecht umgebaute Poelzig-Halle nun auf 15.000 Quadratmetern das Hausarchiv sowie sämtliche Sammlungen, vierzig an der Zahl, und Restaurierungswerkstätten – mit Ausnahme der graphischen Sammlung und der Papierrestaurierung, die im Ephraim-Palais untergebracht sind.
Knapp 50 Mitarbeiter_innen kümmern sich in der Poelzig-Halle werktäglich um die 4,5 Millionen (!) Objekte, die die Stiftung Stadtmuseum inventarisiert hat. Interessant ist, dass lediglich 2.800 Exponate in den zur Stiftung gehörenden Museen (Märkisches Museum, Ephraim-Palais, Knoblauchhaus, Nikolaikirche, Museumsdorf Düppel) ausgestellt sind. Das bedeutet, dass mehr als 99,9 Prozent des Gesamtbestandes fachgerecht gelagert werden müssen. Gesammelt werden ausschließlich Objekte mit Berlin-Bezug, im Jahr wächst die Sammlung um etwa 1.000 Exponate, alles Schenkungen, denn einen Ankaufsetat hat die Stiftung nicht. Inventarisiert sind beispielsweise um die 10.000 Keramikpositionen und 4.500 Gemälde. Je mehr man über die Herkunft eines Objektes weiß, umso wertvoller wird es für die Kurator_innen; wie im DHM gilt auch hier: „Wir sammeln Geschichten, nicht nur Objekte.“
Ein einfaches geknüpftes Band ist eben etwas anderes als die letzte Handarbeit der mit 34 Jahren verstorbenen Königin Luise von Preußen, eine kitschige Namenstasse etwas anderes als ein biedermeierlicher Freundschaftsbecher aus dem Jahr 1822, der einem Berliner Arzt zugeeignet war, zwei blassrosa Kinderschuhe etwas anderes, wenn man weiß, dass sie einmal knallrot waren und dem zweijährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm gehörten – genau zwei Tage lang, bevor sein Vater, der frischgekrönte Friedrich Wilhelm III., „diese fatalen roten Schuhe“ wutentbrannt verschenkte.

FullSizeRender-31Die Stiftung Stadtmuseum besitzt die weltweit größte Sammlung an Gesundheitsgeschirr. Wer jetzt an Schnabeltassen denkt, der irrt. Im Biedermeier wurden so jegliche Küchengeräte aus verzinntem oder emaillierten Eisenblech oder Eisenguss bezeichnet sowie bleifrei glasiertes Steingut oder Porzellan wie diese Teemaschine der Königlichen Porzellanmanufaktur aus den 1830er Jahren.

FullSizeRender-29Ungewöhnlich modern (also mit – in meinen Augen – etwas angemufftem 50er-Jahre-Charme behaftet) erscheint ein Solitair (das ist ein Geschirrservice für eine Person) mit Atlasdekor aus dem Jahr 1770. Was aussieht wie eine auf Porzellan gedruckte Kreuzstichvorlage ist tatsächlich vier Jahre älter als Goethes Werther. Das ist doch erstaunlich!

Weniger erstaunlich ist, dass Museumskultur immer auch Erinnerungskultur ist. An etwa 400 Poesiealben, die im Inventar der Stiftung sind, kann belegt werden, dass zahlreiche Sprüche sich über Jahrhunderte kaum verändert haben, dass diese Sprüche zur Floskelhaftigkeit erstarrt sind, ohne jedoch deshalb die Freundschaft in Frage stellen zu müssen, dass der Anstand es verlangt es seit jeher verlangt, mit Sonntagsschrift zu schreiben, und dass Oblatenbildchen erst kürzlich (mit vorformatierten Diddl- und Disney-Freundschaftsbüchern) aus der Mode gekommen sind.

In der Metallrestaurierung entfeuchtet bei Backofenhitze ein Kettenhemd, ein zwölf Gramm leichtes, filigranes Eisencollier lässt Damenherzen höher schlagen, Heinrich Zilles Uhr liegt in Dutzenden Einzelteilen herum, überhaupt stehen hier zahlreiche Zeitmesser auf den Arbeitstischen, da Berliner und Potsdamer Uhren momentan für ein Forschungsprojekt begutachtet werden.

Im Gegensatz zur Metallrestaurierungswerkstatt ist es im Gemäldedepot angenehm kühl. Die Gemälde hängen alphabetisch sortiert nach Familiennamen der Maler_innen an rollbaren Gittern. Die Stiftung Stadtmuseum hat mit 40 Gemälden die umfangreichste Sammlung von Hans Baluschek, sammelt aber auch moderne Malerei, die ein Abbild des gegenwärtigen Berlins bietet.

Zahlreiche Objekte werden es nie in eine Ausstellung schaffen. Das haben sie mit vielen Objekten aus anderen Museen gemein. Aber ein Museum ist mehr als nur ein Raum für möglichst repräsentative Dauer- und Sonderausstellungen. Der Deutsche Museumsbund schreibt hierzu:

„Ein erheblicher Teil der originären Aufgaben der Museen bleibt dem Besucher und den politisch Verantwortlichen in der Regel verborgen: das Sammeln, Bewahren und Forschen. Die Ergebnisse der Arbeit in diesen Bereichen sind die Grundlage für das Ausstellen und Vermitteln – und damit das öffentliche Erleben der Museumssammlungen.“

Depotführungen, die den Blick hinter Ausstellungspräsentationen möglich machen, erweitern den Horizont gerade in dieser Hinsicht: Museumsarbeit ist mehr, als eine schicke Ausstellung zu kuratieren; es ist akribische Forschungsarbeit und sorgsame Bestandspflege, um verständlich zu machen, warum Dinge heute so sind wie sie sind. Deshalb: Gern mehr davon. Nicht nur im Vorfeld der #LNBerlin.

// (ml)

Zur Information:
Sämtliche Fotos dieses Blogposts sind von Marc Lippuner am 24. August 2015 aufgenommen worden. Mit einem Klick auf die Fotos bekommt man eine vergrößerte Ansicht. Das könnte u.U. ganz hilfreich sein.
Es wäre schön, wenn die Fotos nicht ungefragt weiterverwendet werden.

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2 Antworten zu “Berlin – eine Geschichte in viereinhalb Millionen Teilen

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