Lust will Ewigkeit – Tod hat sie!

Ein Plädoyer fürs #Gruftwandeln //

„Lust will Ewigkeit – Tod hat sie!“, steht auf dem Grabstein von Napoleon Seyfarth. „Lebenssatt! Todestrunken!“, steht da auch. Neben dem Stein, an der Mauer, hängt eine kleine Plakette, auf der der Tote ein Gesicht bekommt. Die Kurzbiografie weist ihn als Schriftsteller, Videonaut, Psychologe und Lebemann aus, er selbst posiert hinter einem blauen Sarg. Seinem Sarg, den er jahrelang in seiner Wohnung stehen hatte. Unter dem Foto so etwas wie seine letzten Worte – post mortem formuliert: „Ich bin gestorben, wie ich gelebt habe, über meine Verhältnisse!“ „Porcus mortuus est!“ (Das Schwein ist tot!) ziert die Plakette auch noch, weitere lateinischen Schweinerein finden sich auf der großen Bodenplatte – beides Verweise auf seinen autobiografischen Roman Schweine müssen nackt sein, der zu den ersten größeren Werken deutscher Belletristik zählt, die sich mit dem Thema AIDS auseinandersetzen.
Wenige Grabstätten erzählen so viel über das Leben derer, die die darunter liegen, wie die von Napoleon Seyfarth auf dem Sankt-Matthäus-Kirchhof in Berlin Schöneberg. Einmal im Jahr findet dort – immer am 17. Mai (ein zahlenspielerischer Verweis auf den §175) – eine schwule (eigentliche queere) Friedhofsführung statt, die zu ausgewählten der etwa 90 gelisteten Grabstätten homosexueller Männer führt und anekdotenhaft über die Biografien Bekannter und Unbekannter Auskunft gibt. (Auf einige hier zur letzten Ruhe gebettete Frauen und Transsexuelle wird auch verwiesen. Auf einige heterosexuelle Persönlichkeiten übrigens auch.)

Zu dem Rundgang, über den ich mit meinem privaten Account auch twitterte, habe ich an anderer Stelle bereits ausführlicher gebloggt; die umfassende Beschreibung von Seyfahrts Grabstelle dient hier lediglich als Aufhänger für mein Plädoyer zum #Gruftwandeln.
Das Kompositum verweist natürlich auf die erfolgleiche #Lustwandeln-Aktion der Münchner Kulturkonsorten im April 2015, die wir guerillamäßig – mit unserem Tweetwalk in Schönhausen unterstützt haben. Die fein abgestimmte Kombination aus Gartenarchitektur, Baukultur und (Kunst-) Geschichte, die beim #Lustwandeln offenbar wurde, zeigt sich nämlich auch auf jedem Friedhof: Eine bewusst angelegte Grünanlage, die landschaftsarchitektonischen Prinzipien folgt, Kapellen, Grüfte, Friedhofsmauern sowie Marmorskulpturen und kunstvoll gestaltete Grabsteine – ein Friedhof steht einem englischen Landschaftsgarten mit dazugehörigem Schloss in nichts nach. Kurzum: Ein Friedhof ist doch eigentlich so etwas wie ein Freiluftmuseum: Auf einem begrenzten Areal werden Erinnerungen bewahrt und Kunstwerke installiert, Grünflächen werden gepflegt und Begräbnisstätten erhalten. Wie in einem Museum gibt es viel Kunstfertiges und Bewahrenswertes zu sehen und mindestens ebenso viele Geschichten zu erzählen.
Nicht nur solch extravagante wie die von Napoleon Seyfarth.
Auf dem St.-Matthäus-Kirchhof liegen beispielsweise die Brüder Grimm, Rudolf Virchow liegt hier, Carl Meyer auch, der Stifter der Gesellschaft für Geburtshilfe. Es gibt ein Denkmal für alle, die an den Folgen von AIDS gestorben sind, aber auch Nonnengräber und opulente Familiengrüfte. In die Steinplatte von Jürgen Baldigas Ruhestätte ist ein Jünglingskopf von Cocteau gemeißelt. Hans Scherers Grab schmückt ein stehender Bronzefaun, der vor ein paar Jahren noch gesessen hat. Es gibt zahlreiche Berliner Ehrengräber hier, von denen manche dann plötzlich keine mehr sind. Warum?
Solchen Geschichten nachzuspüren, und diese Geschichten dann mit anderen in den sozialen Netzwerken zu teilen, das könnte ein Ergebnis vom #Gruftwandeln sein. Hierbei steht nicht der Gedanke im Vordergrund, den Tod wieder mehr ins Leben zu holen (obwohl dies naturgemäß mit hineinspielt), sondern eher, sich unter bestimmten thematischen Blickwinkeln den Toten anzunähern, Blickwinkeln, die ganz verschieden sein können. Lehrreich und interessant sind sie allemal.

Ich kenne so viele Menschen, die Friedhöfe „lieben“, und ein jeder hat andere Gründe dafür. Mich beeindruckt das Monumentale der drei sowjetischen Ehrenmäler in Berlin bei jedem Besuch aufs Neue, genauso schüchtert es mich ein. Mich interessiert, warum man Steine auf jüdische Gräber legt. Ich mag es, Grabstätten von Prominenten, die in meinem Leben irgendwie irgendwann eine Rolle spielten, aufzusuchen. Auch wenn ich über eine Stunde suchen muss – selbst bei strömendem Regen –  wie das Grab von Stefan George in Minusio bei Locarno (lange vor Twitter, aber: wie oft kommt man da schon hin?). Schnitzler, Hofmannsthal (beide Wien), Bronnen, Schernikau, auch Sven Lehmann, einen DT-Schauspieler, den ich sehr verehrt habe (alle Berlin). Und nach Cannes möchte ich nur aus einem Grund: Um Klaus Mann – dem Helden meiner Adoleszenz – einmal nahe zu sein.

Viele (be)suchen die Gräber prominenter Menschen, Lagepläne für diese Zwecke halten zahlreiche Friedhöfe deshalb auch bereit. Vermutlich ist auf keinem Friedhof im deutschsprachigen Raum soviel Prominenz versammelt wie auf den Pariser Friedhöfen Montmartre, Montparnasse und Père Lachaise, die mit teilweise spektakulären und opulenten Promi-Gräbern aufwarten. Aber auch der Wiener Zentralfriedhof oder der Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin (um nur zwei zu nennen, die ich gut kenne) sind für Kunst- und Kulturenthusiasten wahre Pilgerstätten. Das weist natürlich weit über die berühmten Bestatteten hinaus: Auch aus ästhetischen oder kunsthistorischen, aus architektonischen oder religionsgeschichtlichen Gründen lohnen Friedhofsbesuche immer wieder.

Diese ab sofort ausgerechnet unter dem Hashtag #Gruftwandeln mit anderen zu teilen, mag ein wenig creepy erscheinen und bildet einen Friedhofsbesuch nur unzureichend ab. „Grüfte sind ausgemauerte Gräber“, lautet die Definition der Städtischen Friedhofsverwaltung Wien, ein Friedhof ist dann doch eher ummauert, allein über die verschiedenen Grabarten ließe sich viel erzählen.
#Grabwandeln – kurzzeitig als Alternative im Kopf – birgt so viel Traurigkeit, daher hab ich den Hashtag wieder verworfen. #Gruftwandeln erscheint mir nach wie vor als der griffigste Begriff. Er hat einen morbiden Charme und ist nicht frei von Humor, was angebracht ist, wenn man an Grabsteinen wie diesem hier in Berlin Pankow entlang flaniert:

Das Schönste am Hashtag #Gruftwandeln ist jedoch: Er scheint er zu funktionieren, und erste Gruftwandler gibt es auch schon:

Also, liebe Freunde in Aachen, Bad Homburg, Bayreuth, Frankfurt, Köln, München, Schwetzingen, Wien und allerorten: Lasst uns nach dem #Lustwandeln im Frühling doch einmal gemeinsam #Gruftwandeln – vielleicht im Spätsommer? Eine städte- und länderübergreifende, thematisch gefasste Friedhofsschau: ein architektonischer oder kunsttheoretischer, gossipwilliger oder religionsübergreifender Tweet- und Instawalk, das könnte eine spannende Kulturschau geben. Oder gleich mehrere.
Ich habe da große Lust drauf, denn „Lust will Ewigkeit – Tod hat sie!“

// (ml)

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8 Antworten zu “Lust will Ewigkeit – Tod hat sie!

  1. Ach was für eine herrliche Idee! Ja ich liebe auch Friedhöfe. Sind es doch auch perfekte Oasen der Ruhe in der Stadt. Die unterschiedlichen Begräbniskulturen finde ich auch interessant, die deutsche hat ja was von Vor-, Schrebergarten/Jägerzaun-Art im Vergleich zu den Südeuropäischen. Bin ich im Ausland, besuche ich auch immer einen Friedhof.
    Ja, lass uns einen überregionalen #Gruftwandeltag vereinbaren. Vielleicht im Herbst, im nebelingen November …. huh? 😉
    Der Melatenfriedhof in Köln hat ja auch ein bisschen was zu bieten.

    Gefällt 1 Person

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